Ein Tag wie jeder andere...
Nehmen Sie Platz in der Oderlandbahn
auf dem Weg vom polnischen Kostrzyn nad Odra nach Berlin-Lichtenberg
Ein verregneter Morgen. Die Oderlandbahn nähert sich und fährt ein im Bahnhof Herrensee. Schnell noch den nassen Schirm irgendwie verstauen, ein letzter Blick in den verträumten Wald, Abschied von ländlicher Idylle, der Alltag hat mich eingeholt.
Die Türen öffnen sich. Nicht sichtbar von außen durch getönte Scheiben - dichtes Gedränge im Zug. Ich muss nun stark sein und in den Gang zwischen die Sitzreihen gelangen, das ist die einzige Chance um den Stehplatz am nächsten HaIt Strausberg noch gegen eine Sitzgelegenheit einzutauschen. Doch das wollen aIIe und man kennt sich, also immer recht freundlich. Erstaunlich wie viele doch frühmorgens die gute Laune spielen können und ich muss schauen , dass ich nicht im Eifer des Gefechts in die Falle mitteilungsbereiter Bekannter gerate, denen es gelingt, 22 Minuten Belangloses mit lauter Stimme mir und den anderen Fahrgästen ohne jegliche Antwort abzuwarten, aufzuzwingen. Der Zug fährt bereits und braucht vier Minuten bis zum HaIt in Strausberg, die Stunde der Entscheidung. Mit starrem Blick durchs Fenster entwickeln meine Augen einen 360 Grad Rundumblick fixieren alles was dem Anschein einer Bewegung gleicht. Von 50 Fahrgästen sind 40 polnische und die fahren bis zum bitteren Ende mit, bleiben noch zehn, die aussteigen könnten. Diese Quote ist sehr bescheiden. Doch da - nichts entgeht meinem Blick - direkt hinter mir ein Mann Mitte 50 muss raus und entscheidet sich rechtzeitig den Weg zur Tür zu erkämpfen. Geschickt drehe ich mich und hinterlasse zum einen den Eindruck, freundlicherweise Platz gemacht zu haben und zum anderen den Eindruck - wie ? WiIl denn hier gar niemand sitzen? Einen Bruchteil von Sekunden gebe ich meinen Rivalen und dann unverhofft - ich sitze! Sie hatten ihre Chance ! Sekundenlang Siegestaumel, dann die innere Stimme: "Dein gutes Recht hier zu sitzen bei dem Preis!" Doch was ist das, schweres russisches Parfum dringt an meine empfindliche Nase und ich werde gewahr, eigentlich nur einen halben Platz ergattert zu haben, denn meine Sitznachbarin bringt gute zwei Zentner auf die Waage und ich nenne sie IRINA.
Dann die obligatorische Ansage: Nächster HaIt Strausberg. Neben mir Bewegung, die Russin IRINA muss raus. Offenbar muss ich beim Hinsetzen auf einen Henkel ihres Bags geraten sein, sie hängt also und Blicke der Empörung treffen mich. Ich muss sowieso hoch um sie raus zulassen. Das wird wieder ein Akt. Bedenken Sie, theoretisch könnte der Eindruck entstehen, ich würde auch aussteigen wollen und der Sitzplatz muss erneut taktisch verteidigt werden.
Irina drängt sich durch den schmalen Spalt, den ich freigegeben habe. Wahrscheinlich denkt sie nun „Lustmolch …“ auf Russisch.
Plötzlich Stillstand. Im Gang neues Gedränge: ein polnischer Fahrgast mit geöffneter Bierflasche hat sich auf den Weg gemacht und eine Zugdurchquerung - vermutlich zum WC des Zuges - in Angriff genommen. Nun passiert er uns. Irinas Polster drücken mich in die seitliche Begrenzung des Sitzes, ich versuche, mit meiner Tasche Gegenwehr zu erzeugen, da ist der Pole durch. Ich nutze die kurze Aufregung und den Respekt vor der offenen Bierflasche und switche ans Fenster. Das ist zwar für den Ausstieg in Berlin ein zeitliches Fiasko, aber gibt doch mehr Ruhe beim Sitzen. Der Platz neben mir wird sofort belegt von einem Jugendlichen. Neues Ungemach nimmt seinen Lauf. Nach einem Griff in seine Tasche verkabelt sich der junge Mann mit seinem MP3 Player und beschallt nun seine Umgebung mit BUSHIDO-Rhythmen.
Die Türen schließen unter lautem Pfeifton und die Fahrt Richtung Berlin geht weiter. In Strausberg wird die Oderlandbahn jeden Morgen aufs Neue an ihre Grenzen geführt. Die nun entstandene Passagierdichte erinnert mich an Züge ins bayerische Hof, wo es galt Begrüßungsgeld zu kassieren. Der junge Mann neben mir hat sich zurück gelehnt. Seine Beine wippen nach den dumpfen Schlägen der BassDrum in schier unendlich scheinenden Abfolgen immer wiederkehrender Grooves.
Vom Rhythmus und einem Rest parfumgeschwängerter Luft Irinas angelockt tanzt plötzlich eine größere Wespe am dichten Fenster entlang. Sie wirkt nervös und ich werde zunehmend unruhig. Jetzt gilt es, den Tierfreund zu mimen Die Wespe schwirrt jetzt dicht vor meinem Gesicht herum. Ich denke - lieber gut gestanden als schlecht gesessen. Zu spät! Mit. diffusen Armbewegungen versuche ich mich dem Insekt zu entledigen. Nach mehreren Anläufen versucht sie getrieben vom Sog der Oderlandbahn am nächst hinteren Fenster Station zu machen.
Vorrübergehende Erleichterung stellt sich ein. Da steht der Zug irgendwo im Nirwana zwischen Friedrichsfelde und Biesdorf - genannt Biesdorfer Kreuz. Nach wenigen Minuten die Durchsage: "Die Weiterfahrt verzögert sich wegen einer Signalstörung um einige Minuten“. In dieser Phase entwickelt sich erneut eine hochfrequente Durchquerung des Zuges durch Fahrgäste, die das Zug-WC zum Ziel haben. Den Stehplatzinhabern wird nun beidseitig alles abverlangt. Schließlich rollt sie wieder, die Oderlandbahn, und gemäß dem Motto "Die Hoffnung stirbt zuletzt" schafft es der Zug, im Bahnhof Lichtenberg einzutreffen. Nun gilt es nach diesem ersten Tagessieg die weiteren Schikanen der BVG zu nehmen.
Ihr Fahrgast
PS: Seit Beginn 2016, mit dem Fahrplanwechsel, setzt die NEB nun verstärkte Züge im morgendlichen Berufsverkehr ein und die Lage hat sich entspannt. Danke!