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Vor 80 Jahren und doch nicht vergessen
Rehfelde, den 29. 08. 2019(GS) Ohne Kriegserklärung überfiel die faschistische Wehrmacht am frühen Morgen des 1. September 1939 Polen. Für die Deutschen kam die Meldung überraschend, auch blieben Jubelgeschrei und Euphorie aus, denn die Wunden, die der letzte Krieg 1914 bis 1918 in die Familien gerissen hatte, waren noch nicht verheilt.
Viele glaubten, dass die Praxis des „Führers“ durch unblutige Eroberungen, wie die im März 1938, als Deutschland mit Duldung der europäischen Nachbarländer Österreich einverleibte oder der Einmarsch Hitlers in Prag am 15. März 1939 und die Verwandlung der tschechischen Gebiete in das zu Hitler-Deutschland gehörende „Protektorat Böhmen und Mähren“, weiter gehen würde. Frankreich und Großbritannien reagierten dieses Mal sofort und erklärten am 3. September dem Aggressor den Krieg. Nun wurde es Gewissheit, es würde in Europa eine militärische Auseinandersetzung geben.
Der Zweite Weltkrieg sollte sechs Jahre dauern. Sein territoriales Ausmaß, die Opfer an Soldaten, der Mord an Zivilpersonen durch SS und Wehrmacht, die brutale Ausbeutung und Vernichtung von unschuldigen Menschen übersteigen noch heute die Vorstellungskraft der nachgeborenen Generationen.
Der Alltag in unseren drei Dörfern Rehfelde, Werder und Zinndorf hatte sich nach dem 1. September verändert. Neben dem Siegestaumel über die Besetzung Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und vor allem nach der Kapitulation Frankreichs wuchs die Sorge um die eingezogenen Familienmitglieder. Denn spätestens seit dem 22. Juni 1941, als Hitlerdeutschland und seine Militärs die Sowjetunion angriffen, wendete sich das Blatt. Den ersten Siegesmeldungen folgte die unausweichliche militärische Niederlage. Trotzdem opferten Hitler und seine Generale weiter Hunderttausende Soldaten, vor allem an der Ostfront.
Der 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges ist Anlass, auch für unsere Gemeinde eine Bilanz der Opfer zu ziehen. Die auf umfangreichen Forschungen beruhenden Zahlen sind zwar noch immer unvollständig, alle Angaben jedoch namentlich belegt und dokumentiert.
Vorab, der Rehfelder Bürger Wilhelm Betke sollte nur wenige Stunden, bevor der Krieg ausgerufen wurde, eines der ersten Opfer werden. Als KZ-Häftling hatten SS und Gestapo ihn und weitere seiner Kameraden ausgesucht, den sog. Überfall auf den Sender Gleiwitz vorzutäuschen. Durch einen Zufall überlebte er.
Die ersten Todesnachrichten an Rehfelder Familien ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Drei Tage nach Kriegsbeginn fiel Helmut, der 23-jährige Sohn des Rehfelder Malermeisters Wilhelm Schenkmann bei Plewno, ca. 50 km nordöstlich von Bydgoszcz.
Rehfelde hatte 1939 2.411 Einwohner. Mehr als 117 Soldaten des Ortes wurden auf den Schlachtfeldern geopfert, etwa 80 Prozent allein an der Ostfront. Etwa 12 Rehfelder müssen bis heute als „vermisst“ registriert werden. Während der Bombardierungen des Dorfes zählte die zuständige Verwaltungsstelle etwa 8 zivile Bombenopfer. Etwa 5 Personen starben während des Trecks und einzelne zivile Opfer beim Einzug der Roten Armee in die Orte. Nicht zu vergessen, dass 11 Einwohner im Zeitraum von April 1941 bis zum Einmarsch der Roten Armee am 21.4.1945 Selbstmord begingen.
Das Nachbardorf Werder zählte 1939 500 Einwohner. Von den bisher ermittelten 10 Kriegsopfern fielen 6 an der Ostfront. Zwei Werderaner machten 1940 und 1944 ihrem Leben freiwillig ein Ende.
1939 lebten in Zinndorf 343 Bürger. Bisher von uns nachweisbar sind 14 Männer des Ortes, die den befohlenen Kriegseinsatz mit ihrem Leben bezahlten, die Mehrzahl seit 1941 während des räuberischen „Ostfeldzuges“. Schon im Januar 1940 beging ein Zinndorfer Selbstmord, die Dunkelziffer mag höher sein.
„Fremdländische“ Arbeiter gehörten schon kurz nach Kriegsbeginn zum Bild der drei Dörfer. Ohne die Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter und Militärinternierten, die aus Frankreich, Polen, der Sowjetunion, Italien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Kroatien und den Niederlanden stammten, wären die örtlichen Betriebe nicht in der Lage gewesen, die Kriegsmaschinerie und die Versorgung an der "Heimatfront" aufrecht zu erhalten. Allein in der Rehfelder Goedefabrik betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten 1944 mehr als 50 Prozent. Eingegliedert wurden sie ab Mitte 1944 in die Produktion von Teilen für die Panzerabwehrkanonen 39 und 40. Bereits seit 1943 lieferte der Betrieb Teile für die Herstellung der sog. Vergeltungswaffe V2. Vor allem die privaten landwirtschaftlichen und handwerklichen Betriebe der drei Dörfer beschäftigten nachweislich französische Kriegsgefangene, polnische Zwangsarbeiter und sog. Ukrainer. Insgesamt ließ sich bisher unter den Zwangsarbeitern der Tod von mindestens 2 Italienern, 5 Polen, 2 Tschechen und 2 Franzosen nachweisen.
Am 4. Dezember 1943 hatte der Rehfelder Pfarrer Otto Perels 8 Mitglieder der Besatzung eines britischen Bombers, der 2 Tage zuvor auf der Gemarkung abgestürzt war, beerdigt. Auf den Friedhöfen von Rehfelde, Werder und Zinndorf befinden sich Kriegsgräberstätten für insgesamt 19 Wehrmachtssoldaten, die in den letzten Tagen des Krieges in den drei Dörfern von den Faschisten geopfert wurden. An die namentlich bekannten 19 Offiziere und Soldaten der Roten Armee, die bei der Befreiung der drei Orte am 21. April 1945 ihr Leben lassen mussten, erinnert kein Stein.
Am 1. September 2019 stellt sich immer noch die Frage: Warum dieser Krieg, der 55 Millionen Menschen das Leben kostete? Die Machthaber und Wirtschaftseliten des „Dritten Reiches“ hatten ungeheuerliche Pläne entworfen, die in Dokumenten nachzulesen sind. Diese bezweckten die Gewinnung von „Lebensraum“, sie galten der angestrebten Vorherrschaft des deutschen Faschismus auf dem europäischen Kontinent und der Gier nach deutscher Weltmachtstellung.
Der vorstehende Beitrag ist die Fortsetzung des Artikels Nicht „nur“ Fontane, der auf dieser Seite am 5. November 2018 veröffentlicht wurde.
Bild zur Meldung: Schild auf dem Friedhof Zinndorf
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